Bildung - Mittel oder Selbstzweck?

Bildung - Mittel oder Selbstzweck?

Seminar zu Philosophie und Literatur

Es sei der »Zweck des Menschen«, »sich zu bilden«, schreibt Wilhelm von Humboldt. Seine Tätigkeiten seien daher nie »Mittel« der bloßen Ausbildung, sondern lebendige Selbstentfaltung. In solch emphatischen Worten drückt sich das Bildungsideal einer ganzen Epoche aus. Zugleich aber ist von Bildung hier in einem ganz anderen Sinne die Rede als heutzutage: Sind »Bildungsreformen«, »Bildungschancen« und »Bildungsdefizite« auch in aller Munde, meint Bildung hier meist die Vermittlung zweckdienlicher Fähigkeiten, die zur Ausübung eines Berufes oder zum sozialen Aufstieg eignen. Doch was genau heißt »Bildung«? Und wozu dient sie? Vertieft sie unsere Welt- und Selbsterkenntnis? Macht sie bessere Menschen aus uns? Befähigt sie uns zur Autonomie? Oder verhilft sie uns zu einem glücklichen Leben?

Die Bildungsinstitutionen konzentrieren sich heute in erster Linie auf Ausbildung, also auf die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, die auf das Berufsleben vorbereiten sollen. Dagegen scheint bereits in Platons Kritik an den Sophisten ein Bildungsbegriff auf, der sich von zweckorientierter Erziehung abgrenzt, und statt dessen die freie Entfaltung geistiger Anlagen zum Selbstzweck erhebt: Die Aufgabe des Lehrers ist es – Platon zufolge – nicht, Wissen an den Schüler heranzutragen, sondern er dient gleich einer Hebamme nur dazu, dasjenige was dieser bereits in sich trägt, hervorzuholen. Durch ein solches Motiv wird Bildung philosophisch betrachtet zur Aufklärung.
In Deutschland, vor allem zwischen 1770 und 1830, also in den Epochen der Aufklärung, Klassik und Romantik, wird ein ähnlicher Bildungsbegriff entwickelt: Als Bildung gilt hier nicht nur die Erweckung des Verstandes, sondern auch Geschmacks- und Herzensbildung. Anders auch als Erziehung ist sie damit eine selbstbestimmte und selbstreflexive Tätigkeit, also wesentlich Selbstbildung. Der Bildungsbegriff rückt damit in die Nähe des Kunstbegriffes: Wie ein Künstler seine Statue soll jeder Mensch sich selbst formen, denn er hat nicht nur die Möglichkeit der Bildung, er ist auch auf sie angewiesen: »Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung« (G.W.F. Hegel).

Dieser klassische Bildungsbegriff verbindet sich also in mehrfacher Hinsicht mit den Künsten, vor allem der Literatur. Denn ausgehend von der Epoche der Aufklärung wird Bildung selbst zu einem zentralen literarischen Motiv, wie Goethes »Wilhelm Meister« beispielhaft zeigt. Besonders Romane (und andere erzählende Kunstgattungen) können den Entwicklungsprozeß einer Figur nachvollziehbar machen; durch Identifikation und Einfühlung nimmt der Leser oder Betrachter selbst am Bildungsprozeß teil. Der Kunsterfahrung kommt damit eine herausragende Rolle für die Selbstwerdung des Menschen zu. Wie Schiller in seinen »Briefen über die ästhetischen Erziehung des Menschen« betont, fördert allein die Kunst alle Seiten des Menschen, die sinnlichen ebenso wie die geistigen, die sie zu einer harmonischen Einheit verbindet.

Das Seminar macht es sich zum Ziel, durch die Lektüre klassischer und zeitgenössischer Texte den Bildungsbegriff aus zwei Perspektiven zu beleuchten: Zum einen soll die Zwiespältigkeit des Bildungsbegriffes zwischen Selbstzweck und bloßem Mittel aus philosophischer Perspektive verhandelt, zum anderen soll Bildung als literarisches Motiv untersucht werden.Der Dialog zwischen klassischen Positionen und modernen Ansprüchen an Bildung soll den Teilnehmern auch die Werkzeuge in die Hand geben, im Übergang von der Schule zum Studium ihren eigenen Bildungsweg und das Bildungssystem, das diesen Weg prägt, kritisch zu reflektieren und auf dieser Grundlage selbstbestimmt gestalten zu können. Somit richtet sich das Seminar zum einen an Liebhaber der Literatur, Ästhetik und philosophischen Pädagogik, aber auch an all diejenigen, die sich mit der Frage, was es bedeutet sich zu bilden, auseinandersetzen wollen.

Geleitet wurde das Seminar von dem Philosophen, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler Simon Gabriel Neuffer und der Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Tatjana Noemi Tömmel. Beiden ist die Frage, was Bildung sei, nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht eine Herzensangelegenheit.